Feature

Autor/Autorin: Stephanie Metzger

Zunge, Stimme, Ohr - Elias Canettis "Die Blendung" als "Schule des Hörens"

Vorlage: Die Blendung (Roman)
Redaktion: Herbert Kapfer
Technische Realisierung: Josuel Theegarten

Regie: Stephanie Metzger

  • Weitere Mitwirkende

    Sprecher/Sprecherin
    Caroline Ebner
    Sven Hussock
    Stefan Merki
    Andreas Wimberger
    Heiko Ruprecht
    Hemma Michel

"Bei jedem sitzt die Seele woanders: der hat sie in den Lungen, jener im Darm; die hat sie im Herzen und jene im Geschlecht; bei mir fühlte sie sich am wohlsten in den Ohren". Das Bekenntnis des "Ohrenzeugen" Elias Canetti von 1942 unterscheidet den Autor grundsätzlich von der Hauptfigur seines Romans "Die Blendung". Der Sinologe und Privatgelehrte Peter Kien will nichts mehr hören, nicht mehr zuhören, geschweige denn sprechen. Kien ist ein Mensch der Schrift, er liebt die Buchstaben und so wie er das Auge schließen kann, wünscht er sich ein Ohren-Lid, mittels dessen der Lärm der Welt auszusperren wäre. Einladungen zur Diskussion seiner wissenschaftlichen Arbeit nimmt er schon lange nicht mehr an, sondern schickt lieber sein Manuskript und lässt es von anderer Stimme verlesen. Hören und Sprechen sind also nicht die Sache des "Büchermenschen" Kien und doch ist der Roman "Die Blendung" ein klanglicher Kosmos; "Akustische Literatur", in der der auditive Sinn zu einem Thema wird, das im gesamten Werk und Denken Canettis eine zentrale Stellung einnimmt. Canetti versieht seine Figuren mit sprachlichen Masken, die als Ergebnis seiner akustischen Feldforschungen im sozialen Umfeld Wiens den Tonfall des Textes prägen, ohne den Figuren dabei tatsächlich nahe zu kommen. Der Spalt zwischen Figur und ihrem Ausdruck bleibt rätselhaft und die Sprache ist nicht selten Instrument der Macht. Alternativ zu diesen sinnfälligen Grenzen des gesprochenen Wortes erscheint in Die Blendung die "Gorilla-Sprache", die Kiens Bruder, ein Psychiater, einem Irren abgelauscht hat. Körperlich, ohne System, mehr Laut als Wort ist diese Sprache lebendig und wird von Georg Kien tatsächlich gehört. Ein Talent, das wiederum entscheidende Komponente der Poetik Canettis ist. Stimmen- und Sprachvielfalt der Kindheit im bulgarischen Russe, die beeindruckende Vortragskunst eines Karl Kraus oder die Konfrontation mit dem Klang der Massen in Wien werden in den autobiographischen Schriften zu prägenden Hörerlebnissen ("Die gerettete Zunge", "Die Fackel im Ohr", "Augenspiel"). Eine Reise nach Marrakesch erfährt der Autor vor allem als Begegnung mit fremden Stimmen und Klängen ("Die Stimmen von Marrakesch"). Und nicht zuletzt die zahlreich dokumentierten Lesungen der eigenen Werke machen deutlich, wie stark Canetti das Hören und die akustische Verlautbarung als Sinn und Verpflichtung des Dichters verstanden hat. "Canetti setzt Wissen und Hören gleich, und Hören mit der Fähigkeit, alles zu hören und doch zu antworten." (Susan Sontag) Die Recherche nach den akustischen Dimensionen in "Die Blendung" begibt sich in all diese Klang- und Sprachräume und führt ein in Canettis "Schule des Hörens". 

Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel

Produktions- und Sendedaten

  • Bayerischer Rundfunk 2013
  • Erstsendung: 29.09.2013 | Bayern 2 | 52'59

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